Strukturelle Komplexität

Waldlandschaften werden dreidimensional

Alice Rosen und Tommaso Jucker

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Wälder mit einer komplexen dreidimensionalen Struktur beherbergen einen überdurchschnittlich grossen Anteil der weltweiten Artenvielfalt. Darüber hinaus absorbieren und speichern sie entscheidende Mengen Kohlenstoff aus der Atmosphäre. Dadurch werden sie zu einem wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel. Trotz dieser wichtigen Leistungen sind Wälder vom Klimawandel ernsthaft bedroht – durch Waldbrände, Dürren und Krankheiten – und werden noch dazu in alarmierender Geschwindigkeit für forst- und landwirtschaftliche Flächen gerodet. Diese Störungen verändern die dreidimensionale Struktur von Wäldern dramatisch und beeinträchtigen den Erhalt der Artenvielfalt sowie weitere wertvolle Aufgaben, welche Wälder als Ökosystem übernehmen. Um diese Veränderungen genau verstehen und vorhersagen zu können, müssen neue Methoden entwickelt werden, mit welchen die dreidimensionale Struktur des Blätterdachs präzise erfasst werden kann. Bisherige, bodenbasierte Methoden liefern keine genauen Messungen, denn sie beschreiben die strukturelle Komplexität* über vereinfachte Eigenschaften der Bäume. Mit den neuesten Entwicklungen in der LiDAR-Technologie können nun Wälder über grosse Gebiete hinweg dreidimensional erfasst und vermessen werden. Die Technologie verändert unser Verständnis von struktureller Komplexität und was diese für die Gesundheit unserer Ökosysteme bedeutet. Mit der ständigen Verbesserung dieser Methoden – sie werden aussagekräftiger und allgemeingültiger – können wir die weltweit unverzichtbaren Wälder besser verstehen, erhalten und wieder aufforsten.

 

Warum Komplexität wichtig ist

Bäume wachsen, wetteifern um Platz im Kronendach und sterben irgendwann wieder. Dabei lassen sie unglaublich komplexe dreidimensionale Waldstrukturen entstehen, welche Ökolog:innen seit Jahrzehnten faszinieren [C.G. Jones et al., 1994]. Wälder mit komplexer Struktur absorbieren und speichern nicht nur mehr Kohlenstoff aus der Atmosphäre [C.M. Gough et al., 2019], sondern bieten auch einer umfangreichen und diversen Gemeinschaft von Organismen einen Lebensraum unter ihrem Blätterdach [J.A. Walter et al., 2021]. Komplexe dreidimensionale Strukturen bieten diverse Nischen für verschiedene Arten und begünstigen das Zusammenleben einzelner Organismen. Dadurch können viele verschiedene Arten in grosser Dichte zusammenleben [S. Gámez and N.C. Harris, 2022; K.E. Kovalenko et al., 2012; G.A. Langellotto and R.F. Denno, 2004]. Es überrascht deshalb kaum, dass die Komplexität der Waldstruktur zunehmend als wichtige, erhaltenswerte Eigenschaft dieser Ökosysteme wahrgenommen wird [W.D. Simonson et al., 2014].

Die dreidimensionale Struktur von Wäldern wird durch die verschiedenen Baumarten einer Region und ihre individuellen ökologischen Strategien** geprägt. Wälder mit einer diversen Mischung von Baumarten haben grundsätzlich eine komplexere Struktur als artenarme Wälder [D.C. Zemp et al., 2019; J. Juchheim et al., 2019]. Wälder mit Bäumen, deren Kronenarchitekturen sich ergänzen, können den vorhandenen Platz effizienter nutzen [T. Jucker et al., 2015; H. Pretzsch, 2014]. Arten, welche viel Licht brauchen, können ihre Kronen bis zum oberen Rand des Blätterdachs ausweiten, während Bäume mit einer grösseren Schattentoleranz sich damit zufriedengeben, den Raum weiter unten zu füllen. Dadurch entsteht eine komplexe, vielschichtige Struktur, welche gesamthaft mehr Licht [J. Sapijanskas et al., 2014; J.W. Atkins et al., 2018] und mehr Kohlenstoff [M. Dalponte et al., 2019] aufnimmt. Noch dazu entstehen so die idealen mikroklimatischen Bedingungen für das Wachstum neuer Keimlinge im Unterholz, welche durch das dichte Blätterdach vor extremen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen geschützt sind [T. Jucker et al., 2018].

Natürliche Störungen wie Stürme, Feuer und Dürre prägen die dreidimensionale Struktur von Wäldern ebenfalls massgeblich [T. Jucker, 2022]. Lücken, welche durch den Sturz eines Baums entstehen, treiben das Wachstum im Unterholz an und bieten diversen Arten mit unterschiedlichen ökologischen Strategien Schutz [A. Muscolo et al., 2014; J. Zhu et al., 2014]. Die Verstärkung menschlicher Einflüsse – Klimawandel, intensive Rodung und die Ausweitung landwirtschaftlicher Aktivitäten – beeinflussen die Struktur der Wälder weltweit grundlegend und bedrohen ihre Fähigkeit, Kohlenstoff zu speichern und die Biodiversität zu erhalten, massiv [T. Newbold et al., 2015; A.P. Williams and J.T. Abatzoglou, 2016; D.T. Milodowski et al., 2021]. Aus diesem Grund wächst das Interesse daran, Methoden zu entwickeln, welche Veränderungen der strukturellen Komplexität von Wäldern über Raum und Zeit messen und überwachen können. Dies hilft, Schutz- und Instandsetzungsmassnahmen anzuleiten [D.C. Zemp et al., 2019; N. Camarretta et al., 2020; D.R.A. Almeida et al., 2019; C. Penone et al., 2019]. Aber dafür müssen wir uns erst einmal darüber einig werden, was mit «struktureller Komplexität» überhaupt gemeint ist, und das ist einfacher gesagt als getan.

 

Strukturelle Komplexität messen und definieren – nicht ganz einfach

Strukturelle Komplexität* ist facettenreich und deshalb schwer zu definieren. Ein nützlicher Startpunkt einer Definition sind «Diversität, Dichte, Grösse und Anordnung struktureller Elemente sowie die räumlichen Massstäbe, über die sie sich erstrecken» [M. Tokeshi and S. Arakaki, 2012]. Da diese Definition mehrere Begriffe umfasst, ist es unwahrscheinlich, dass eine einzelne Messung jeden Aspekt der Komplexität zu erfassen vermag. Darum entstanden unzählige unterschiedliche Methoden zur Erfassung der strukturellen Komplexität, und es herrscht Uneinigkeit bezüglich ihrer Interpretation. Aktuell gibt es noch immer kein allgemeingültiges Vorgehen zur Messung der dreidimensionalen Waldstruktur. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass zahlreiche Begriffe wie «Habitatarchitektur», «strukturelle Heterogenität» und «strukturelle Diversität» alle als auswechselbare Synonyme für strukturelle Komplexität verwendet werden [C. McElhinny et al., 2005].

Bisher verliessen sich Ökolog:innen zur Messung der strukturellen Komplexität von Wäldern auf bodenbasierte Methoden, für welche sie wenig mehr als ein Massband benötigten. Bei diesen Messungen liegt der Fokus typischerweise auf einem einzelnen Aspekt der Waldstruktur, wie zum Beispiel dem Durchmesser von Baumstämmen oder deren Höhe. Dabei wird aber die Komplexität des Waldes in verschiedenen Dimensionen vernachlässigt. Es gab Bemühungen, diese herkömmlichen Messmethoden in einem System zur Bestimmung der strukturellen Komplexität zusammenzufassen. Einige Methoden legen das Augenmerk auf die horizontale Anordnung von Bäumen [P.J. Clark and F.C. Evans, 1954; K. Füldner, 1995]; andere betrachten die Dichte und Verteilung der Blätter im Kronendach; und noch andere erfassen die vertikale Struktur von Wäldern [R.H. MacArthur and J.W. MacArthur, 1961] oder die Diversität ihrer strukturellen Elemente [N.L. Lexerød and T. Eid, 2006]. In einer Sache sind jedoch alle diese bodenbasierten Ansätze limitiert: Sie versuchen, Dreidimensionalität zu erfassen, ohne diese wirklich messen zu können [E.R. Lines et al., 2022].

 

Waldstrukturen dreidimensional erfassen – eine Revolution der Fernerkundung

Eine zunehmend verbreitete Lösung bietet die Verwendung von Fernerkundungstechnologien wie LiDAR zur Erfassung der dreidimensionalen Struktur von Wäldern [N. Camarretta et al., 2020]. Pro Sekunde schiesst ein LiDAR Scanner mehrere Hunderttausend Laserimpulse ins Blätterdach. Der Scanner misst die Zeit, die ein einzelner Laserstrahl braucht, bis er zum Sensor zurückgeworfen wird. Dadurch entsteht ein unglaublich detailliertes dreidimensionales Punktwolken-Modell des Blätterdachs. LiDAR Sensoren können auch auf Plattformen montiert werden. Dies ermöglicht Messungen von Standorten aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Massstäben. Vom Boden aus kann LiDAR hochdetaillierte dreidimensionale Modelle einzelner Bäume erstellen, die sogar kleinste Äste und Blätter abbilden [K. Calders et al., 2020]. Von einem Flugzeug, einem Helikopter oder einer Drohne aus kann LiDAR die dreidimensionale Struktur des Blätterdachs ganzer Landschaften erfassen, was vom Boden aus schlicht unmöglich wäre [T. Jucker et al., 2018; E.R. Lines et al., 2022] (Abbildung 1). Und mit dem kürzlich von der NASA lancierten LiDAR-Satelliten GEDI (Global Ecosystem Dynamics Investigation) entsteht nun die erste hochauflösende Karte der weltweiten Waldstruktur aus dem All [F.D. Schneider et al., 2020].

Diese LiDAR Datenrevolution weckt weltweit Interesse für die Erforschung der strukturellen Komplexität von Wäldern. Dank der neuen Technologie können klassische strukturelle Eigenschaften über riesige Flächen hinweg gemessen werden. Die Vielfalt der Laubhöhen zum Beispiel (FHD – Foliage Height Diversity) wurde von Ökolog:innen über Jahrzehnte hinweg verwendet und wird nun als Teil der GEDI Mission aus dem All kartiert [H. Tang et al., 2019]. Mehr und mehr Open Source Werkzeuge machen den Prozess der Gewinnung ökologisch bedeutungsvoller Informationen aus 3D-Punktwolken zugänglicher [J.W. Atkins et al., 2022]. In der Folge beginnen wir langsam zu verstehen, warum und wie die strukturelle Komplexität in verschiedenen Waldökosystemen variiert [M. Ehbrecht et al., 2021]. Mit diesem Wissen ausgerüstet können wir prioritäre Schutzgebiete anweisen [M. Ehbrecht et al., 2021] und Vorgehensweisen entwickeln, welche dabei helfen, die strukturelle Komplexität beschädigter Wälder wiederherzustellen [N. Camarretta et al., 2020; C. Penone et al., 2019].

 

Abbildung 1: Beispiel eines Blätterdach-Höhenmodells, abgeleitet von LiDAR Daten, welche während eines Flugs über eine tropische Waldlandschaft in Sabah, Malaysisches Borneo erfasst wurden. Der Farbgradient widerspiegelt die Höhe des Blätterdachs, wobei gelbe Farben hohe Waldgebiete und blaue Farben kurze Vegetation oder unbedeckten Boden darstellen. Von links nach rechts ist ein scharfer Übergang zwischen altbestehendem tropischem Regenwald – wo Bäume über 80m hoch werden – und einer Ölpalmplantage mit einem charakteristischen kurzen und einheitlichen Blätterdach. Die ersten hundert Meter Wald an der Grenze zur Plantage weisen eine deutlich tiefere Kronenhöhe auf als der Rest des Waldes. Diese Randeffekte können zum Teil Hunderte von Metern weit in das Waldesinnere hineinreichen. Sie stehen in Zusammenhang mit erhöhter Baumsterblichkeit aufgrund wärmerer, trockenerer und windigerer Wetterbedingungen in diesen Übergangszonen.

Aber all das macht deutlich, dass wir uns gut überlegen müssen, wie wir strukturelle Komplexität definieren und messen wollen [L.H.L. Loke and R.A. Chisholm, 2022]. Einerseits sind wir nicht mehr nur darauf beschränkt, lediglich durchführbare Messungen vorzunehmen, und können uns mehr auf ökologisch relevante Messungen beschränken [E.R. Lines et al., 2022]. Andererseits stehen wir aber auch einer Unzahl verschiedener Masseinheiten, Methoden und Definitionen gegenüber, wodurch das Vergleichen und Interpretieren von Ergebnissen unterschiedlicher Studien erschwert wird. LiDAR ist letztendlich kein Patentrezept. Vor allem in Gebieten, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sind die Daten oft nicht zugänglich oder können kaum ausgewertet werden. Tropenwälder beherbergen einen grossen Teil der weltweiten Biodiversität, sind aber von LiDAR Messungen kaum abgedeckt [T.R.M. Bakx et al., 2019; R. Valbuena et al., 2020]. Gerade dort ist es aber wichtiger denn je, dass wir verstehen, wie die strukturelle Komplexität durch Störungen beeinflusst wird und wie schnell sie sich erholen kann. Programme zum Ausgleich dieses Ungleichgewichts sind unumgänglich. Das «Amazon Biomass Estimation project» (EBA) zum Beispiel hat die LiDAR Abdeckung im brasilianischen Regenwald massgeblich verbessert [R. Dalagnol et al., 2021] und damit nie gesehene Möglichkeiten eröffnet, die strukturelle Komplexität der Wälder dort zu messen.

 

Voraussetzungen schaffen für die Erforschung der Komplexität von Lebensräumen

Neuste Errungenschaften in der LiDAR Technologie ermöglichen heutzutage Messungen der dreidimensionalen Struktur von Wäldern in räumlichen Massstäben und Grössenordnungen, welche noch vor zwei Jahrzehnten undenkbar waren. Das Interesse für die Erforschung der Komplexität von Lebensräumen nimmt zeitgleich mit dem Zugang zu LiDAR Daten zu. Dadurch wird es zwingend notwendig, dass wir kritisch beurteilen, wie wir die neuen Datenquellen, die uns zur Verfügung stehen, am besten nutzen. Wichtig ist das Entwickeln starker, eindeutiger und leicht verallgemeinerbarer Methoden, welche einfach zu interpretieren sind und die komplette dreidimensionale Komplexität von verschiedenen Ökosystemen erfassen können. Wahrscheinlich gibt es keinen allgemeingültigen, auf alle Situationen anwendbaren Ansatz. Auf jeden Fall sollten wir aber verschiedene Messmethoden evaluieren, welche jeweils den grössten Beitrag zu einem besseren Verständnis darüber liefern, wie Ökosysteme funktionieren und eine hohe Artenvielfalt gewährleisten. Dies könnte wiederum ein vielversprechender Schritt hin zur Identifizierung von Gebieten mit hohem Schutzwert, zur Messung von Störungseinflüssen und zur Verbesserung von Restaurierungsmassnahmen nach grossen Störungen sein.

 

 

 

* Strukturelle Komplexität bezeichnet den Reichtum verschiedener Merkmale, wie diese in Beziehung zu einander stehen und wie verschieden diese Beziehungen sind. Beispiel: Ein Wald mit hoher struktureller Komplexität weist also viele verschiedene Pflanzen- und Tierarten auf, welche unterschiedliche ökologische Strategien haben. Diese Pflanzen und Tiere werden unterschiedlich gross und haben viele verschiedene Beziehungen zueinander.

** Ökologische Strategie: Jeder Organismus hat eine Überlebensstrategie, die von seinem Umfeld beeinflusst wird. Beispiel: Bäume schätzen ab, wann sie im Frühling ihre Blätter wachsen lassen. Frühes Blätterwachstum kann ein Vorteil sein, weil der Baum dann eine grössere Krone bilden und so mehr Zucker einlagern kann. Der Nachteil ist, dass der Baum zu früh Blätter bildet und diese bei einem erneuten Wintereinbruch, erfrieren. Der Baum verschwendet dann Energie.